Am 6.5. 2018 zeigte der Spiegel den Beitrag „Anja Loven und die Hexenkinder“: http://www.spiegel.tv/videos/1520374-anja-loven-und-die-hexenkinder
Ich möchte Ihnen als Ethnologe den Film empfehlen, Ihnen aber auch eine Kritik daran zumuten. Vielleicht sehen Sie ihn sich an und kehren dann zum Text zurück.
Sicher leistet die Mission von Anja Loven gute Arbeit. Der Film allerdings soll vor allem EuropäerInnen ansprechen, nicht Menschen in Afrika. Dafür bedient er gewisse Stereotypen und Dramatisierungen, auf die wir in unserer Arbeit bewusst verzichten.
1. Die erste Hälfte des Spiegel-Beitrages weckt mehrfach Ängste vor einem machetenschwingenden Mob. Es liegt mir fern, die konkrete Situation aus der Ferne zu beurteilen. Gegen Sehgewohnheiten möchte ich aber klären: Es ist mitunter völlig normal, dass in einem langweiligen Dorf bei der Ankunft eines Jeeps einer NGO sofort ein paar Dutzend und dann ein paar hundert Leute dastehen. Ebenso normal ist, dass Leute eine Machete dabeihaben, das Standardwerkzeug für jedwede Feldarbeit. Das bedeutet noch nicht eine Bedrohung, wie der Film das ständig suggeriert.
Es ist in Nordnigeria für christliche Organisationen sehr rasch lebensgefährlich zu arbeiten – aus Südnigeria allerdings kommen eher selten Berichte von lebensbedrohlichen Situationen, auch wenn es zu lautstarken Konflikten kommen kann, die aber ebenso rasch wieder abebben können. Erste Adresse während unserer Arbeit in Ghana ist stets der Chief eines Ortes oder ein Ältester, bei dem man sich „anmeldet“, die obligatorische Verwaltungsgebühr („Kola“) wie auf jedem Amt zahlt, sein Anliegen vorträgt und ein Stimmungsbild einholt. Danach kann man immer noch abwägen, wie konform man sich im Interesse der Zielperson verhält. In der kommunalen Arbeit im subsaharischen Afrika kommt es meist auf die Wahrung von Hierarchieketten an, die für solche Belange von außen gezielt angesprochen werden müssen, wenn man ernst genommen werden möchte. Was im Film vollständig unsichtbar bleibt: Es gibt staatliche Strukturen auch in Nigeria und dazu gehört eine zwar häufig korrupte, aber dennoch bewaffnete Polizei. Wenn der erste Junge nicht mitgenommen werden konnte, so stellt sich die Frage, warum die Polizei nicht wenigstens angefragt wurde. Hexereianklagen gegen Kinder sind in Nigeria und Ghana offiziell verboten.
2. Dass ein Kind nicht einfach so in einem Jeep mitgenommen werden kann, hat Gründe, die nicht nur in der suggerierten Halsstarrigkeit des „Mobs“ liegen. Ein überregional verbreitetes Gerücht besagt: Kinder sollen nicht in fremde Jeeps einsteigen, weil sie sonst von Ritualmördern oder Organhändlern gefangen würden. Das ist in Nigeria ebenso real wie hierzulande die Angst vor Kindesentführung. Dass eine stark tätowierte, blonde, weiße Frau auftaucht und ein Kind mitnehmen möchte, ist zwangsläufig verdächtig und nicht automatisch willkommen. Loven dürfte hier rasch in das Stereotyp der „Mami Wata“ passen, einer blonden Meeresgöttin, die Menschen mit Versprechen und Reichtümern lockt. Womöglich wird sie selbst als ambivalente Hexe wahrgenommen und ihre Tätowierungen als Schutzzauber verstanden. Das muss man nicht gutheißen oder akzeptieren, aber man sollte reflektiert damit umgehen. Die Hauptlast ihrer Arbeit wird von Nigerianern getragen, die vermitteln, informieren und abwägen, wann und wie der Einsatz des Druckmittels „fremde, reiche, weiße Person“ lokal Sinn macht und wann es wirklich gefährlich wird.
3. Das Bild, in dem Loven das Kind „Hope“ im Zustand eines Marasmus auffindet und erstmals „füttert“ – es ist ein schonungsloses Bild aus der Hilfsarbeit, die heute euphemistisch „Entwicklungszusammenarbeit“ genannt wird. In der Wissenschaft will man solche Bilder oft nicht mehr sehen, weil man Schwarze nicht als notorische „Hungerleider“ stereotypisieren will – man hat sich daher mitunter darauf verlegt, alles durch die rosarote Brille zu interpretieren und Leid zu übersehen. Das ist sicherlich die falsche Reaktion. Dass das Foto weltweit berühmt wurde, liegt aber auch daran, dass der weiße Westen sich hier in einer Position spiegelt, die insgesamt unwahr ist. Die weiße Frau füttert das arme schwarze Kind. Nur: „Die Weißen“ geben in aller Regel nicht Kindern in Afrika zu trinken, sondern extrahieren Bodenschätze, Öl und Fischgründe in hartem Eigeninteresse und ohne Rücksicht auf Verluste.
4. Auch in Europa werden Kinder misshandelt und verwahrlosen. Manche müssen von aufmerksamen Nachbarn gerettet werden, landen in schlecht entlohnten Pflegefamilien oder Heimen. Daraus wird allerdings nicht auf einen generell „barbarischen“ Zustand geschlossen, wie das der Film an einer Stelle macht.
5. Wir alle kennen das Foto des an den Strand gespülten zweijährigen Jungen Alan Kurdi, der auf der Flucht ertrank, weil die Eltern keine Möglichkeiten hatten, legal einzureisen und Asyl zu beantragen. Nicht zuletzt deshalb bin ich äußerst misstrauisch geworden gegenüber Fotos, an denen der Westen vergessen kann, was für ein kaltherziges Gesellschaftsmodell hier vorherrscht. Wie oft hört man hier, dass man „nicht allen helfen“ könne. Emotionslos sehen Wähler der Regierungsparteien seit sieben Jahren dem Bürgerkrieg in Syrien zu und machen auch noch die Grenzen zur Türkei dicht, was vielen immer noch nicht genug ist. An einem afrikanischen Dorf, das einen Waisenjungen öffentlich verhungern lässt, kann man die eigene Kälte vergessen als auch legitimieren: Weil es in Afrika so grausam und „barbarisch“ zugehe, dürfe man niemanden hereinlassen und müsse selbst grausam sein. Gegen solche Vereinnahmung möchten wir uns in unserer Arbeit verwahren.
6. Loven wird häufig gezeigt, wie sie Kinder streichelt, herzt oder berührt. Zweifellos brauchen Kinder auch körperliche Zuwendung, Umarmungen, Gedrücktwerden, um die Grenzen ihrer Haut zu erfahren. Westliche KinderheimtouristInnen allerdings sind in Indien und Afrika so berüchtigt geworden, dass man an manchen Orten keine mehr sehen möchte. Kinder werden in die emotionale Prostitution gedrängt, wenn wildfremde Menschen auf sie zu stürzen und in den Arm nehmen und küssen wollen, ihnen hinterher noch Süßigkeiten oder Spielzeug kaufen. Weil die Weißen Reichtum und Spenden versprechen, trauen sich afrikanische MitarbeiterInnen oft nichts zu sagen. Man kann daher nicht oft genug darauf aufmerksam machen, dass afrikanische Kinder keine „niedlichen“ Kuscheltiere sind. Sie brauchen Zuwendung, aber nicht zwangsläufig von zuwendungsbedürftigen Weißen, die sie einmal im Jahr oder auch nur für ein paar Wochen sehen. Der Impuls, das verhungernde Kind durch Berührung zu trösten und zu beruhigen ist verständlich – professioneller wäre nur über Worte, Mimik und Gestik zu arbeiten.
7. Hexereianklagen sind ein selbst geschaffenes Elend, das auch mit Erfahrungen und Geld aus dem Westen eingedämmt werden muss. Aber wenn Loven behauptet, man kenne das Bild der Hexe in Dänemark nicht, dann wird das schlecht wirken: Zum einen gilt Hexerei in Afrika als Wissen und Eigenschaft von „AfrikanerInnen“, von dem die Weißen keine Ahnung hätten. Man lacht daher über Weiße, die sich über Hexereivorstellungen mokieren. Zum Anderen wissen auch viele Menschen in Afrika, dass es in Europa (und eben auch in Dänemark) Hexenjagden gab und dass es dort sogar Menschen gibt, die sich für Hexen halten: sogenannte „Wicca“. Weiße gelten dann als bigott, wenn sie behaupten, nichts vom Hexenglauben zu wissen. Hexerei lässt sich argumentativ ebenso schlecht widerlegen wie der Seelenglaube. Eine nüchterne, gerechte und differenzierte Kritik der Hexereivorstellungen wird fast zwangsläufig allgemeine Religionskritik, die man in Deutschland nicht gern hört.
Krankenkassen in Deutschland zahlen für homöopathische Behandlungen, man kann überall „Fernreiki“ oder Engelschanneling kaufen, Menschen gehen in die Kirche und trinken „Jesu Blut“ – so groß sind die Unterschiede zu Hexereivorstellungen meist gar nicht und mehr als 8% der Menschen in Deutschland glaubt manifest an Hexerei, die katholische Kirche stellt nach wie vor Exorzisten ein.
8. Der Film legt das nicht nahe, aber man sollte es dennoch noch einmal betonen: Nicht alle Waisenkinder oder verwahrlosten Kinder im subsaharischen Afrika sind „Hexenkinder“. Die Sklaverei hat in vielen afrikanischen Staaten eine klare Hierarchie geschaffen, die bis heute wirkt. Obdachlose „Veranda-kids“ schlafen heimlich auf irgendeiner Veranda, arbeiten als Lastenträger und nicht wenige verkaufen um Mitternacht noch Brot oder Kurzwaren an belebten Straßen, um die Schulgebühren zu zahlen. Leider deckt der Film nicht auf, was „Hope“ vorgeworfen wurde und ob Hope auch geholfen worden wäre, wenn nicht der Verdacht einer Diskriminierung aus „spirituellen Gründen“ im Raum gestanden wäre.
9. Der Blick auf die mediale und materielle Infrastruktur christlicher Missionsstrukturen beschämt mich als Atheisten mitunter. Sicher: Atheisten und Säkularisten stellten nie eine wirkliche Gemeinde dar und Aufklärung zum reflektierten Zweifel hin ist ein anderes Konzept als Missionierung für einen festen Glauben ohne Zweifel. Dennoch frage ich mich, warum „wir“ Säkulare nicht ebensolche Strukturen aufbauen können. In Ghana arbeiten wir mit christlichen Organisationen zusammen, unter anderem mit den freundlichen katholischen Nonnen aus Nigeria, die sagen, in Nordghana sei es schlimmer als in Nigeria. Auch unsere MitarbeiterInnen sind meist gläubige ChristInnen. Dennoch verstehen wir uns als säkular. In der Aufklärungsarbeit aber ziehe ich persönlich die Grenze dort, wo insbesondere im Westen das Christentum als weniger abergläubisch als die Hexereivorstellungen verkauft wird. Aufklärung ist ein wirksames, aber stets zweischneidiges Mittel.
Für Ihr Interesse und Ihre bisherigen Spenden bedanke ich mich sehr herzlich,
Felix Riedel
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