Evelyn

Evelyn[1] lebt seit drei Jahren im Fluchtort nahe der Stadt Kpatinga.

Die inzwischen 75-jährige wurde als eines von acht Kindern in einem Dorf in der näheren Umgebung geboren. Sie hatte vier Brüder und vier Schwestern. Inzwischen ist sie die einzige, die noch lebt. Ihre Eltern waren Kleinbauern. Aus finanziellen Gründen konnte sie die damals noch nicht weit verbreiteten Schulen nicht besuchen. Als Evelyn alt genug war, heiratete sie und verließ das Haus und damit das Dorf ihrer Eltern.

Ihr Mann hat zwei Ehefrauen und ist ebenfalls Bauer, wie viele in den Dörfern der ländlichen Gebiete im Norden Ghanas. Sie selbst kümmert sich um den Haushalt und um die Kinder und kocht für die Familie. Sie hat vier Söhne, die inzwischen alle verheiratet sind.

Am Tag ihrer Anklage kommen mehrere Mitglieder einer anderen Familie zu ihrem Haus. Sie haben gewartet, bis die Männer des Hauses auf die Felder gegangen sind und sie mit den Ehefrauen ihrer inzwischen erwachsenen Söhne alleine im Haus ist. Die Ankömmlinge beschuldigen sie, eine Hexe zu sein. Sie solle mit ihrer Magie Schlangen befehligen können, um diese auf Menschen zu hetzen. Diese Schlangen hätten in letzter Zeit mehrere Menschen gebissen, am Vortag einen Jungen dieser Familie. Evelyn und ihre Schwiegertöchter versuchen, sich zu verteidigen und beteuern ihre Unschuld. Doch ohne männliche Verteidiger sind sie der Anklage nicht gewachsen. Sie können nicht einmal herausfinden, warum der Verdacht ausgerechnet auf sie fällt. Die Ankläger geben ihr eine Bibel und fordern sie auf, einen Schwur zu leisten, um zu beweisen, dass sie keine Hexe ist. Evelyn, eine gläubige Christin, tut was von ihr verlangt wird. Trotz dieses Schwurs wollen die Ankläger ihr nicht glauben. Sie behaupten, dass sie als Hexe diesen Schwur abgeben könne, obwohl sie schuldig ist. Als die Ankläger drohen, Gewalt anzuwenden, ist es ein Mann aus der Nachbarschaft, angelockt durch die laute Diskussion, der Schlimmeres verhindern kann. Er schafft es, die Ankläger zu vertreiben. Diese sollen sich schämen, einen Konflikt mit einer anderen Familie zu riskieren. Dank ihm entgeht Evelyn körperlicher Gewalt. Als ihre Söhne und ihr Mann von den Feldern kommen und von der Anklage hören, entscheiden sie, ihre Mutter in den Fluchtort nach Kpatinga zu bringen. Sie fürchten um ihre Sicherheit und wollen weitere Konflikte vermeiden. Daraufhin mietet ihre Familie ein Fahrzeug und bringt sie mit ihrem Gepäck nach Kpatinga. Dort angekommen wird sie zum Chief und Priester des Fluchtortes gebracht, der den Frauen auf seinem Land Schutz bietet. Er führt ein Ritual durch, um sie von etwaiger böser Macht zu heilen. Trotzdem muss sie bleiben, während ihre Familie zurückfährt. Nur so, sagt der Priester, kann sichergestellt werden, dass sie nicht rückfällig wird und wieder dunkle Magie betreibt. Und nur so kann für ihre Sicherheit garantiert werden. Seitdem lebt sie mit den anderen Frauen zusammen. Sie hat eine eigene Hütte.

Da Evelyn schon alt ist, ist sie im Fluchtort auf die Unterstützung der jüngeren Frauen angewiesen. Diese holen Wasser und Feuerholz für sie und versorgen sie mit. Sie selbst kann kaum arbeiten, da sie Probleme mit den Beinen hat und keine weiten Strecken laufen kann. Ihre Aufgabe ist es Gemüse, das sie gemeinsam anbauen, an Einwohner von Kpatinga zu verkaufen.

Evelyn hat das Glück, dass die Anklage nicht aus ihrer eigenen Familie kam und ihre Familie nicht an die Wahrheit der Anklage glaubt. Die Familie unterstützt sie und ihre Söhne kommen sie regelmäßig besuchen. Dieses Glück haben nicht viele der Verstoßenen. Die meisten Anklagen kommen aus der eigenen Familie oder der Familie des Ehegatten. Ihre Söhne würden Evelyn gerne wieder mit nach Hause holen, allerdings fürchten sie dort um ihre Sicherheit. Zwar ist sie rituell gereinigt, doch durch das Stigma, das an Beschuldigten haften bleibt, ist das Risiko einer erneuten Anklage bei einer Rückkehr zu ihrer Familie hoch.

Evelyn hat sich inzwischen an das Leben in Kpatinga gewöhnt. Sie mag die Freiheiten, die sie hier genießt. Vor allem aber ist ihr wichtig, dass sie hier niemand mehr anklagen oder ihre Familie belästigen kann. Daher zieht sie für den Moment das Leben in Kpatinga vor. Nur wenn ihre Söhne kommen würden, um sie nach Hause zurückzubringen, würde sie über eine Rückkehr nachdenken.


[1] Name geändert